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Lasst uns streiten! Ein kleines Plädoyer dafür, warum wir uns (hauptsächlich) über Politik unterhalten sollten.

Hier oder dort, vor der Grenze oder dahinter. Deutsche und Tschechen verbindet im heutigen Europa eine ganze Reihe von Themen. „In der Luft“ liegen alte Fragen wie neue Herausforderungen und Lösungen. Der Blog von Zuzana Lizcová bringt interessante Momentaufnahmen des aktuellen Geschehens der letzten Wochen und Eindrücke von Treffen mit verschiedenen Menschen.  

14.5.2018

Dienstag, elf Uhr abends. In einem kleinen, nagelneuen Lokal bezahle ich meine zwei redlich verdienten Biere. Ein langer Tag. Die Stille zum Kneipenschluss wird auf einmal durch eine Bemerkung unterbrochen, die alle aufrüttelt. „Wissen Sie eigentlich, dass man in einer anständigen Bar nicht über Politik spricht?“ behauptet der junge Mann, dem wir alle gerade Trinkgeld gegeben haben. Wie bitte? Na, das ist aber etwas Neues!

„Dafür könnten die Sie rausschmeißen, dass wissen Sie schon? Erlebt hab ich das bereits,“ fügt ein unauffälliger Typ energisch hinzu, der sich bisher die Zeit damit vertrieben hatte, auf sein Handy zu starren. Sein Akzent verrät unschwer, dass er kein Tscheche ist. Diese Meinung hat er wohl hierher mitgebracht. „Nein, nein,“ schüttelt er entschieden den Kopf: „Das war hier!“ betont er. Eigentlich wundere ich mich nicht einmal. Die Abneigung zum Diskutieren hat uns nämlich irgendwie alle erfasst.

Migration, Feminismus, das Erbe des Kommunismus, kontroverse Politiker. Man könnte munter weiter fortfahren. Die Liste der Themen, die Tabu sind, wächst und wächst. Ich zähle schon gar nicht mehr mit, wie oft mir im letzten Jahr jemand gesagt hat: „Mit dem kannst du darüber nicht reden.“ oder „Darüber unterhalten wir uns lieber nicht.“ Wozu Freunde verlieren, mit Verwandten aneinandergeraten? Schwups, schnell unter den Teppich damit. Über Fußball oder das Wetter können wir wunderbar in aller Ruhe streiten, und das gemeinsam. Das ist dieses Jahr aber ein strenger Winter, was?

Das Vermeiden von Schwierigkeiten in unserem Privatleben ist aber nicht alles. Wir löschen Querulanten auf Facebook und laden zu öffentlichen Debatten lieber niemanden ein, der eine andere Meinung haben könnte. Diskussionen unter Artikeln lesen wir nicht oder lassen sie gar nicht erst zu. Vor den Wahlen hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk den Kommentatoren verboten, über Politik zu sprechen. Nach den Wahlen bemühen sich die Politiker, die Journalisten mundtot zu machen. Bald werden wir hier nicht nur unseren Frieden und gutes Wetter haben, sondern auch Ruhe. Endlich Ruhe.

Und wem wird das gut passen? Hauptsächlich denen, die die Macht haben und die glauben, sowieso alles besser zu wissen. Psst, wir regieren! Diskussionen und Streits bremsen uns bloß. Wir wissen doch schließlich, wie es geht, also warum sollten wir uns überhaupt noch über irgendetwas unterhalten? Ganz einfach deshalb, weil ein Volk eine Illusion ist. Die Gesellschaft ist viel mehr die Summe verschiedener, oft entgegengesetzter Interessen. Und wie soll man diese besser kennenlernen als in der Diskussion? Wie soll man anders Meinungen ändern, Argumente bekräftigen und idealerweise auch einen Weg finden, der mehr oder weniger allen entspricht, oder zumindest der Mehrheit?

Genauso wichtig wie Debatten zu führen ist es, sie richtig zu führen. Schon der französische Schriftsteller Romain Rolland sagte: „Eine Diskussion ist unmöglich mit jemanden, der vorgibt, die Wahrheit nicht zu suchen, sondern sie schon zu besitzen.“ Sektierertum jeglicher Art, auch die Beschimpfungen von Bolschewiken, Bauern und Prager Kaffeehaus-Nichtstuern helfen uns in keinster Weise weiter. Das, was wir brauchen, ist Streitkultur. Offenheit und Anstand. Wissbegierde und die Bereitschaft, auch denen zuzuhören, denen wir nicht zustimmen. Toleranz gegenüber anderen, aber auch klare Haltungen.

Im Deutschen gibt es für das alles den schönen, lakonischen Ausdruck Streitkultur. Falls wir es schaffen, ein solche Kultur zu entwickeln, können wir die „Politische Gespräche verboten“- Schilder in unseren Gaststätten und Kneipen ruhig abhängen. Und uns auch über nicht so einfache Themen unterhalten. In den deutsch-tschechischen Beziehungen gibt es ebenfalls noch immer viele davon. Sie lassen sich in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart finden. Oft werden wir uns beispielsweise nicht darüber einig, wie eine offene Gesellschaft oder das zukünftige Europa aussehen sollen. Das ist in Ordnung. Nur sollten wir die Label „West“ und „Ost“ entfernen und versuchen, das Geschehen auf der anderen Seite der Grenze besser kennenzulernen und zu verstehen. Vielleicht auch in einer richtig heftigen Diskussion.

Aber was sollen die armen Gastwirte dazu sagen, die das alles mit anhören werden müssen? Der Historiker Jiří Rak, ein führender Kenner des tschechischen Charakters und dessen Entwicklung in den letzten zwei Jahrhunderten, bietet dazu eine einfache Antwort an. Die wahre Autorität des Gastgewerbes repräsentiert für ihn der Wirt aus Jaroslav Hašeks Schwejk. Dessen Weisheit besagt: „Ein Gast wie der andere, und wenns auch ein Türke ist. Für uns Gewerbetreibende gibt’s keine Politik. Bezahl dein Bier und setz dich hin und quatsch, was du willst.” Die heutigen Wirte täten gut daran, ab und an einen solchen Klassiker zu lesen.


Zuzana Lizcová ist Journalistin und Analytikerin. Sie sammelt interessante Geschichten, schreibt und hält Vorträge über internationale Politik. Ein besonders enges Verhältnis hat sie zu Deutschland und Österreich. Sie hat Spaß an neuen Projekten und an Menschen, die anderen etwas zu sagen haben.